"Wir sind, woran wir glauben"

SPD-Politikerin Anna Kavena (38) nach ihrem Schlaganfall über ihr Leben, Religion und Politik.

„Das ist gerade genau mein Thema“, antwortet Anna Kavena am Telefon. Damit war nicht unbedingt zu rechnen. Denn wer gefragt wird, ein Interview über Religion und Glaube zu geben, reagiert eher reserviert. Der aktuelle Anlass kann nicht anders als dramatisch bezeichnet werden. Die SPD-Abgeordnete war auf dem Weg zum Landtag nach Düsseldorf. „Ich hatte eine supergute Laune. Mein Kopf war voller Ideen für das, was in dieser Woche noch zu erledigen war. Und dann hat mich quasi etwas aus meinem Leben gerissen. Ich habe auf der Autobahn einen Schlaganfall bekommen. Das war eine Situation zwischen Sterben und Leben.“ Sie konnte noch auf den Seitenstreifen fahren und selbst die 110 wählen: „Es dreht sich alles in meinem Kopf, ich glaube ich habe einen Schlaganfall.“ Bis heute ist es für sie ein Rätsel, wieso sie das gesagt hat, denn die Lähmungserscheinungen in einer Gesichtshälfte und im Arm erfolgten erst danach. „Es war so, als wenn mir jemand etwas in den Mund gelegt hätte. Und das war sehr wichtig, denn alle wissen, dass bei Schlaganfall jede Sekunde zählt.“

Die 38-Jährige spricht offen über diese außergewöhnliche Erfahrung, obwohl viele aus ihrem Umfeld ihr davon abgeraten haben. Menschen in der politischen Verantwortung müssten stark rüberkommen, sie dürften keine Schwäche zeigen. „Ich lag auf der Stroke-Unit, bekam solche Nachrichten und dachte bei mir: Wieso eigentlich? Ich habe mir doch nichts vorzuwerfen!“ Inzwischen habe sie durch diesen gesundheitlichen Einschnitt viel gelernt. Ihr sei im Krankenhaus und bei der Reha aufgefallen, wie viele Menschen von Schlaganfällen betroffen seien. Sie kenne nun auch aus eigener Erfahrung die Hilflosigkeit, die aufkommt, wenn man ambulante fachärztliche Termine erst Monate später angeboten bekommt: „Man sitzt am Telefon und könnte weinen! Ich verstehe jetzt, wie hilflos sich das anfühlt.“ 

Vielleicht sei sie jetzt sogar besser in ihrer Arbeit, weil sie nicht nur theoretisch, sondern auch empathisch an die Fragen der Gesundheitspolitik herangehen könne. Bei der Bewältigung dieser schwierigen gesundheitlichen Situation sieht die zweifache Mutter neben den medizinischen Therapien noch eine weitere Kraft am Werk. „Gerade seit dem Schlaganfall im April hat der Glaube mir beim Gesundwerden sehr geholfen. Ich bete jeden Abend vor dem Schlafengehen und danke für den Tag. Ich wende mich auch mit meinen Bitten um ein gesundes Leben an Gott.“ Die Beschäftigung mit diesem plötzlichen Ereignis klammert auch die Frage nach dem Sinn nicht aus. „Ich habe den Impuls erhalten, mein Leben zu entschleunigen und zu spüren, worauf es ankommt.

In dieser schweren Zeit sei ihr klargeworden: "Familie und der Glaube an Gott sind mir besonders wichtig.“ Gerade in ihrem Alter sei die Belastung sehr groß, zumindest für Menschen, die bemüht seien, Beruf, Familie und gesellschaftliches Engagement unter einen Hut bringen zu wollen.  "Man kann dabei schnell den Fokus verlieren. Vielleicht liegt der Sinn darin, bewusster zu leben. Sich zu konzentrieren auf das, was man glaubt und für richtig hält, dankbar für das Leben zu sein, dankbar, dass man auf der Erde ist.“ Dies soll auch Bedeutung für die nächste Generation besitzen. In der Zeit der Reha hat die ganze Familie die Erstkommunion der ältesten Tochter gefeiert. „Das Thema Religion und Kirche ist bei uns so selbstverständlich, dass es keine Frage ist, ob die Kinder getauft werden oder mit zur Kommunion gehen. Schließlich wachsen die Kinder im Glauben an Gott auf. Ihnen ist quasi ein Urvertrauen auf Gott in die Wiege gelegt worden.“

Für die Landespolitikerin reicht dieses Thema vom privaten in den öffentlichen Bereich. „Bei den Fragen meiner Kinder zur Religion geht es oft um die Entscheidung, welche Werte sind für uns wichtig. ‚Liebe deinen Nächsten’ beispielsweise fordert mich als Vorbild auf, das selber umzusetzen.“ Möglicherweise liege darin ein Problem in unserer Gesellschaft. Über die Werte gebe es nur bedingt Übereinstimmung. Ihr Eindruck sei es, dass Religion heutzutage zu wenig eine Rolle spielt. Sie sei für viele zu anstrengend, weil sie nicht an der Oberfläche bleibe, sondern in die Tiefe gehe. „Die Frage, ‚wer bin ich, wer will ich sein‘ stellen sich viele nicht.“ Eine Gesellschaft, die ohne Gott und Glauben klarzukommen versucht, müsse sich fragen lassen, welche Folgen das habe. „Es fehlt oft der Zusammenhalt und die Freundlichkeit im Zusammenleben. Viele haben nur ihre eigenen Interessen im Blick. Die Anzahl der Depressionen und Burnout-Erkrankungen nimmt zu. Vielleicht besteht da ein Zusammenhang.“ Beim Stichwort Kirche als religiöse Institution nimmt Kavena eine differenzierte Position ein. Die Kirche mache Fehler, halte sich nicht an Werte, müsse sich deshalb aber genauso den Grundsätzen von Recht und Ordnung stellen, wie alle anderen. „Ich finde es sehr traurig, dass das Thema Kindesmissbrauch überhaupt Thema in der Kirche ist. Man darf es nicht verleugnen.“ Auszutreten, wie viele ihr empfehlen, sei allerdings keine Option. „Ich sage immer klar: Die Kirchensteuern werden für die Allgemeinheit genutzt. Die Kirchen subventionieren die Suchtberatung, die Familienberatung, Caritas und Diakonie und vieles mehr. Vielen ist das nicht klar.“

Für die Stuckenbuscherin gehören Politik und Religion zusammen: „Das kann man gar nicht trennen, denn wir sind das, woran wir glauben. Religiös zu sein, bedeutet, wie man lebt. Religion ist in unserem Innern manifestiert. Im besten Fall leben wir nach den religiösen Werten. Das kann man weder privat noch beruflich, noch politisch ablegen.“ Auch bei der Frage, ob sich die Kirchen aus den aktuellen gesellschaftlichen Debatten heraushalten sollen, hat die Stadträtin eine klare Position: „Die Kirchen sind automatisch am politischen Meinungsbildungsprozess beteiligt. Sie regen die Menschen an, verschiedene Blickwinkel einzunehmen.“ Durch tiefgründige Fragestellungen seien Interessierte eingeladen, für sich selbst Haltungen und Entscheidungen mit politischer Bedeutung zu finden. Anna Kavena äußert am Ende noch einen Wunsch: „Die Religionen könnten sich in ihrer Vielfalt noch mehr annähern und sich auf die gemeinsamen Wurzeln besinnen. Sich wechselseitig einzuladen und zu besuchen, wäre dafür ein guter Ausgangspunkt.“

Text: Joachim van Eickels, hier gekürzt
komplett und zuerst erschienen in der geistREich, Kirchenzeitung für Recklinghausen, Ausgabe Juni